In vielen Traditionen gibt es „Gebote“ – Dinge, die wir tun oder unterlassen sollen, um auf dem spirituellen Weg voranzuschreiten. Diese Yamas und Niyamas, wie sie in der Yogatradition und auch im Buddhismus heißen, sollen uns helfen, Gewohnheitsmuster zu erkennen und uns so erleichtern, sie zu durchbrechen. In der Praxis geschieht es jedoch oft, dass wir sie stattdessen missbrauchen, um das Ego zu stärken. Zum Beispiel, wenn wir uns über andere erheben und sie kritisieren, weil es uns besser gelingt, ein Gebot einzuhalten; oder wenn wir es gegen uns verwenden und dafür verurteilen, es nicht zu schaffen.

Mit der aktuellen Übung möchte ich euch eine der Lojong-Losungen* weitergeben, die mir selbst immer wieder hilfreich ist. Sie lautet:

 

„Sprich nicht über verletzte Glieder“

Jeder Mensch hat das Bedürfnis geliebt, akzeptiert und sicher zu sein. Um dies zu erreichen, versuchen wir, bestimmte Bedingungen zu erfüllen, die uns der Erfüllung dieses Bedürfnisses näherbringen könnten: Wir versuchen zum Beispiel erfolgreich oder schlank zu sein, zuverlässig oder effizient.

Ich selbst hatte (und habe) die Vorstellung, dass ich nur perfekt sein muss, um geliebt zu werden. Dies hat in der Vergangenheit nicht nur dazu geführt, dass ich unter Dauerstress war, sondern hat mir auch die Neigung gegeben, über andere zu lästern. In der Psychologie wird dies als die „downward comparison“ bezeichnet. Sie schenkt uns eine kurzzeitige Befriedigung, da das Kritisieren anderer uns selbst besser dastehen lässt, zugleich hinterlässt es aber einen schalen Nachgeschmack. Der Liebe, nach der wir uns sehnen, bringt uns dieses Verhalten keinen Millimeter näher.

 

Wenn du dich in nächster Zeit dabei ertappst, dass du über die Schwächen anderer sprichst, dann versuche dieses Muster zu durchbrechen. Wenn es dir nicht gelingt, sei nicht streng zu dir, sondern nimm es mit Humor. Zu erkennen, wie schwer es sein kann, auf ein Gewohnheitsmuster zu verzichten, macht uns mitfühlender und toleranter gegenüber anderen.

“Der Schlüssel zu Veränderung sind Ehrlichkeit und Wärme.” Pema Chödrön

* Die Lojong Losungen sind 59 Merksätze, die als die Essenz der buddhistischen Lehre Tibets gelten. Sie helfen uns, jede Erfahrung – ob angenehm oder unangenehm – in eine Gelegenheit zu verwandeln, mehr Weisheit und Mitgefühl zu entwickeln.